Italien hat sein „dolce vita“ und Frankreich sein „savoir vivre“. Die Italiener genießen also das „süße Leben“, während die Franzosen es „verstehen, gut zu leben“. Und der Deutsche: er ist fleißig. Soweit die stereotype Erzählung über die Unterschiede europäischer Nachbarn.
Und in der Tat: beglücken sich die Franzosen bei sündhaft teuren „Nouvelle-Cuisine-Menüs“, so kommen aus der ganzen Welt Menschen nach Deutschland, um aus Maßkrügen massenhaft Bier in sich hineinzukippen.
Ist also doch was dran vom „hässlichen Deutschen“. Und von der eleganten, leichten Lebensweise von unseren Nachbarn. Der Franzose: „der Gourmet“ (Feinschmecker) und der Deutsche: „der Gourmand“ (Vielfraß)?
Ich denke, jedes Vorurteil ist nur so gut, wie man es pflegt. Freilich können Schnitzel, die links und rechts vom Teller raushängen identitätsstiftend sein, doch gehören sie Großteils der Vergangenheit an. Die Welt ist ständig in Bewegung und so dürfen wir feststellen, dass es mittlerweile in den Haushalten wohl mehr Pizza und Pasta, als Schweinebraten und Gansljung gibt.
Schaut man auf die Geschichte des Weinbaus, so gilt der Wandel auch für alkoholische Getränke. War doch Bayern tatsächlich einmal Weinland. So spricht der Bischof Arbeo von Freising im Jahre 765 von der „regio Baiovariorum viniferax“, d.h. „das weintragende Land der Bajuwaren“. Bischof Emmeram aus Regensburg erkannte, nachdem er von Frankreich nach Bayern zurückkehrte über Bayern: „Es war sehr gut, lieblich anzusehen, reich an Hainen, wohlversehen mit Wein.“
Es waren wieder einmal die Römer, die den Weinbau mutmaßlich nach Bayern brachten, um ihre Legionen bei Laune zu halten. Erst Klimaveränderungen im späten 16. Jahrhundert sowie die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) machten der altbayerischen Weintradition ein (vorläufiges) Ende. In der Folgezeit setzte sich das billiger produzierbare Bier durch, das den Landesherren nicht zuletzt auch ein höheres Steueraufkommen versprach. (Quelle: Weinland Altbayern. Zur Geschichte des heimischen Weinbaus, insbesondere durch die Freisinger Bischöfe - Stadtheimatpflege Freising e.V.)
Wie in jeder Branche, sind es die Spitzen, die eine bestimmte Richtung vorgeben. So produzierte im Jahr 2023 BMW mehr Autos denn je und widerspricht damit allen Unkenrufen, dass der Autostandort Deutschland (aufgrund der E-Mobilität) im Untergang begriffen sei. Bei aller Kritik, dass wir in Zeiten des Klimawandels eher kleinere Autos brauchen, produziert die Forschung an den Top-Modellen auch Techniken, die allen Autos zugutekommt.
Im Kulinarischen waren es Köche, wie Eckhardt Witzigmann, welche die „neue deutsche Küche“ maßgeblich beeinflussten. Auch wenn sich nicht jeder Mensch einen „Tantris“-Besuch leisten konnte, so hatte die Einführung der Nouvelle Cuisine sehr wohl Einfluss auf die heimische Küche. Die Menschen veränderten ihr Geschmacksempfinden, indem sie knackiges Gemüse dem zerkochten Gemüse-Matsch vorzogen. In Zeiten, wo die „Aldianer“ groß wurden und die Gier nach billigen Lebensmitteln begann, wurde in der modernen Küche die Philosophie der frischen und lokalen Lebensmittel gefeiert. Und auch heute ist es für „Fine-Dining-Restaurants“ wichtig gute Kontakte zu lokalen Landwirten und anderen Erzeugern zu haben. Köche wie Michael Simon Reis vom Restaurant „Johanns“ bauen sich regelrechte Netzwerke an lokalen Erzeugern auf, um top frische Ware aus der Region zu haben. So entstehen lokale Wertschöpfungsketten, wo den Erzeugern auch noch faire und konstante Preise geboten werden können. Dass der Kunde das auch bezahlen muss, ist selbstverständlich. Aber wer zu genießen weiß, der hat Freude dran. Und wer es sich nicht leisten kann (wobei das aus meiner Sicht oftmals an den Präferenzen persönlicher Ausgaben hängt), der lernt von dieser Philosophie und kocht sich zu Hause Gerichte mit frischen und möglichst lokalen Lebensmitteln. Einen besseren Beitrag zur Erhaltung heimischer Landwirtschaft kann man als Verbraucher meines Erachtens nicht leisten.
Auch im Bereich „Wein“ gibt es Spitzenleute, die bestimmte Strömungen vorgeben und somit maßgeblich für den Stil der jeweiligen Zeit verantwortlich sind. So hat z.B. Josef Jamek mit seiner Gründung der „Vinea Wachau“ nicht nur dazu beigetragen, dass der trockene Wein in ganz Österreich die Norm wurde. Er hat nebenbei auch noch dafür gesorgt, dass so eine wunderbare Kulturlandschaft, wie es die Wachau ist, nicht mit Wasser aufgefüllt wird, um einen Staudamm zu bauen.
Bei den derzeitigen Spitzenwinzer lässt sich ein eindeutiger Trend zum Biowein feststellen. Ungeachtet dessen, gibt es immer mehr Wein, der minimal im Keller beeinflusst wird. An der Spitze stehen die sog. „Orange-Weine“ bzw. „Natural Wines“. Das beeinflusst das Geschmacksbild der Weine und fordert den Konsumenten, indem er sich von vordergründigen (oftmals mittels Reinzuchthefen erzeugten) Fruchtaromen verabschieden muss. Das neue „Gut“ ist in Kennerkreisen plötzlich deutlich zurückhaltender in den primären Aromen. Viele Winzer ziehen hier mit, andere dagegen haben Angst, ihre Stammkundschaft zu verprellen. Andere wieder gehen den Mittelweg und bieten beide Wege an. Jedenfalls tut sich was. Und für uns Genießer wird die Palette breiter. Nicht mehr der Wein mit den lautesten Aromen ist allein der Star. Denn Genuss ist, genau hinzuschmecken und auch die subtilen Töne zu erkennen. Das ist schon fast, wie in der Kunst.
Genießen ist Kultur. Gourmets feiern die Kunst des Kochens und Kelterns (wie auch Bier brauens etc.), nicht das Stillen des Hungers/Dursts. Gute Genießer fühlen sich durch Genuss erhöht, ohne hochnäsig bzw. überheblich zu sein. Genießen hängt auch nicht primär an den Preisen der Lebensmittel. So kann eine gute Kartoffel vergleichsweise besser sein als ein im Antibiotika-Wasser produzierter Fisch.
Ich denke, wenn wir hier in Deutschland verstehen, dass Genuss nichts Elitäres ist, sondern die Freude an guten Lebensmitteln und deren Zubereitung, dann steht einem „Savoir vivre“ a la Deutschland (bzw. Bayern) nichts mehr im Wege. Ich nenne es gut bayerisch „guad leben“.